Die Meisterin der Süße
- Daniel Weiss

- Oct 26
- 3 min read
Updated: 2 days ago

Das Licht im Foyer
Es riecht nach Vanille, Metall und Geduld. In der ehemaligen Empfangshalle eines Pariser Verwaltungsgebäudes, gleich hinter der Rue Haussmann, arbeitet heute die Versuchsküche des Instituts National des Desserts Nominatifs. Edelstahl, Marmor, Glas – eine Kathedrale des Präzisen. Hier leitet Apolline Faure, 26, die älteste Dessertkommission Frankreichs. Unter der makellos weißen Jacke blitzt ein Tattoo hervor, an ihrem Hals hängt kein Schmuck, sondern eine kleine Silberschaufel – der Kopf eines alten Löffels, ohne Stiel, mit matter Patina. Es ist das Erbstück ihrer Großmutter. „Du bist nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren“, hatte die gesagt, „aber vielleicht bist du die, die ihn einmal hochhält.“ Was viele nicht wissen: Diese Großmutter war keine Konditorin, sondern Postbeamtin. Der Löffel stammt aus einem alten Kantinenservice. Vielleicht liegt darin die eigentliche Poesie dieser Geste – das Edle entstand erst durch die Hand, die ihn trägt.
Die Liste der Namen
Seit 1871 entscheidet dieses Institut darüber, wie Desserts heißen dürfen. Wer ein neues Rezept erfindet, reicht hier einen Antrag ein – Rezeptur, Herkunft, Begründung. Wird er akzeptiert, wandert er in die Liste Officielle des Desserts: Pavlova, Sachertorte, Baklava. Was einst als bürokratische Geste begann, wurde unter Faurès Leitung zur ästhetischen Instanz. Sie hat die Kommission aus den dunklen Hinterzimmern geholt und das Archiv in die Mitte des Gebäudes gerückt, dorthin, wo früher Besucher empfangen wurden. Heute ist es eine gläserne Versuchsküche – offen, hell, transparent. „Ein Name darf nicht im Dunkeln entstehen“, sagt sie. „Er braucht Licht und Hände, die ihn begreifen.“ Wenn man ihr dabei zusieht, wie sie zwischen Edelstahlflächen und Papierstapeln steht, versteht man, dass dieses Institut mehr ist als ein Amt. Es ist eine Sprache, die schmeckt.

Das Entremets Eilish
An diesem Vormittag liegt auf dem Edelstahltisch ein grüner Körper, glatt, still, fast technoid: das L’Entremets Eilish. Ein Dessert über Kontrolle und Zartheit – außen makellos, innen leicht salzig. Die Oberfläche spiegelt das Licht wie Lack; darunter Limettenmousse, Rauchsalz, Mandelboden. „Man muss es zerbrechen, um es zu schmecken“, sagt sie und führt das Messer an die Glasur. Die Kuppel bricht lautlos auf, eine Linie zieht sich durch das Grün. Drinnen dampft es, kaum sichtbar. Für Faure ist es kein Tribut an Billie Eilish, sondern eine Studie über Perfektion und Bruch. Wie in einem Song, der erst durch sein Zittern lebt. Und tatsächlich – man kann sich vorstellen, dass Billie, die Königin der unterkühlten Intimität, etwas von dieser Kühle versteht.
Die Archive der Süße
Einmal pro Woche steigt sie hinab in das Kellerarchiv, ein stiller Ort aus Metallregalen, Wachssiegeln und handgeschriebenen Etiketten. Dort ruht die Geschichte der französischen Patisserie – von der Pavlova bis zum ersten Mousse au Chocolat, das offiziell eingetragen wurde. Faure zieht eine Rolle heraus, bricht das Siegel, liest die Notiz: „Benannt nach der Tänzerin Anna Pawlowa, 1927.“ Australien und Neuseeland stritten um die Herkunft, Frankreich entschied über den Namen. Heute wirken diese Dokumente fast absurd feierlich, aber Faure behandelt sie wie lebende Dinge. „Ein Name“, sagt sie, „ist ein Rezept, das überlebt hat.“

Das Soufflé Abramović
Ihr Lieblingsfall bleibt das Soufflé Abramović – ein Gericht, das erst im Moment seines Zusammenfallens serviert werden darf. Drei Stunden saß sie damals vor dem Ofen, beobachtete, wie es langsam einbricht. „Es war wunderschön“, sagt sie, „und völlig ungenießbar.“ Ein Werk über Geduld, Verfall und den Punkt, an dem Kunst und Küche eins werden.
Die Frau mit der Schaufel
Wenn die Sonne hinter der Rue Haussmann verschwindet, glüht das Institut noch von innen. Die Fenster spiegeln das Licht der Öfen, das Messing des Türschilds funkelt. Apolline Faure schließt die Tür, die kleine Silberschaufel an ihrem Hals schwingt leise. Auf den Straßen riecht es nach Regen und Zucker. Und man versteht, dass sie hier nicht einfach Desserts prüft – sie bewahrt die Sprache des Geschmacks.
DWHH – Post Dokumentarische Narrative ist ein künstlerisches Projekt von Daniel Weiss. Alle Texte und Bilder entstehen in Zusammenarbeit mit KI – als Experiment über Kreativität, Wahrnehmung und das Erzählen im digitalen Zeitalter.























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